10. Dezember 2022
Liederhalle Stuttgart
Samstag, 10.12.22, 19 Uhr
Einlass ab 18 Uhr
Konzertende ca. 22 Uhr
Bildmotiv Copyright by Juventino Mateo
Eine neoromantische Vertonung von Wolfgang Roese des größten Kunstmärchens von H. C. Andersen (Libretto: Ute Knoedgen) für großes Orchester, gemischten Chor, Sopran & Sprecherin
Mit Schauspielerin ChrisTine Urspruch (Tatort Münster) und Sarah Behrendt unter der Leitung von Wolfgang Roese
Einlass ab 18 Uhr
Konzertende ca. 22 Uhr
Einlass ab 19 Uhr
Konzertende ca. 23 Uhr
Einlass ab 19 Uhr
Konzertende ca. 23 Uhr
Wer ist sie, die Schneekönigin, die den pubertierenden Kay erst verführt, fast totküsst – ihn dann entführt, hoch in den Norden, wo er ganz blau vor Kälte inmitten einer kalten, leeren Herrlichkeit ganz alleine die Spiegelscherben seiner zersprungenen Seele wieder zusammenfügen soll?
Verführerisch ist sie, voller unterkühlter Erotik, perfekt in ihrer eisigen Schönheit – und existenziell bedrohlich.
Sie hat ihren Ort – so sagt sie – im Spiegel des Verstandes und um Kay aus ihrer Gewalt zu erlösen, bedarf es eines starken Gegenpols: Gerda, Kays kleiner Freundin, die alle Kindheitserfahrungen mit ihm teilt und ihn liebt und… die den anderen – den mühevollen, sinnlich-schmerzhaften Weg der Erfahrung geht. Gefährlich und lang ist dieser Weg, vor allem, wenn man – wie die Gerda des 19ten Jahrhunderts – naiv ist. Aber letztendlich ist es ihre Unbeirrbarkeit im Gefühl, die Kays Seele heilt, so dass wir in einer großen Kreisbewegung wieder am Anfang der Geschichte stehen…mit Sommer und Rosen und der Idylle des Miteinander.
Handlung
Hans Christian Andersen erzählt in “Die Schneekönigin”, wie das Herz des jungen Kay durch den Splitter eines Zauberspiegels gefriert und in den Bann der Schneekönigin gerät.
Während Kay kalt und steif in ihrem Eispalast sitzt und vergeblich versucht, das “Eisspiel des Verstandes” zu lösen, macht sich seine Freundin Gerda auf den abenteuerlichen Weg in den hohen Norden, um mit ihren Tränen Kays Herz wieder aufzutauen.
Ein Märchen, das durch seine Naturmetaphorik besticht, aber auch dazu einlädt, die dargestellten Frauentypen näher zu untersuchen.
Hans Christian Andersen
Interpretation
Brief von Ute an Wolfgang
Freiburg im August 2004
Hallo Wolfgang,
also, ein paar Bemerkungen zur Interpretation (rudimentär und in Kürze) und ein paar Sätze zum Libretto, wie ich es mir vorstelle.
Erst mal…ich bin froh, dass du die ursprüngliche, originale Übersetzung auch favorisierst. Sie ist epischer, in ihrer Einfachheit schöner als die aufgemotzten neuen. Ein paar wenige Stellen würde ich umschreiben. Welche? Darüber müssen wir reden.
Wir werden sehen…oder um mit Andersen zu sprechen:
“…sehen wir…”
Meine eigene Interpretation ist sowieso ziemlich radikal. Sogar eine sehr gute Freundin hat mir zu meiner Formulierung, dass es sich um ein “Pubertätsdrama” handelt, gemailt :
“…dass du gleich mit dem “pubertierenden” Kay anfängst, rückt es für mich etwas zu sehr auf eine jugendpsychologische Sex-Schiene. Es geht doch weder um Kindesmissbrauch noch um sexuelle Entwicklung, sondern um den Machtkampf zwischen einerseits Egoismus, Verstand, Erfolg und andererseits Wärme, Menschlichkeit, Liebe…”
Sie hat sicher recht…nur denke ich, ist eine musikalische Interpretation vielleicht gerade die eine, die gegen den Strich hören / lesen lässt…die die Abgründe hör- und sichtbar macht… also… “sehen / hören wir”…
Ich lese dieses Märchen als eine Geschichte des Erwachsenwerdens, als Dokument der Befreiung aus der idyllischen Welt der Kindheit. Kay will es wissen…er sucht einen rationalen Zugang zur Welt. Die Märchen der Großmutter, der magische Zugriff auf das Leben reichen ihm nicht. Die Eiskristalle mit ihren idealen, berechenbaren Formen sind ihm einsehbarer als die lebendigen, vergänglichen Rosen. Gleichzeitig wird hier auf der Autorenebene durchaus Rationalismuskritik sichtbar… so schön und perfekt die Schneekönigin auch ist, ihre Küsse sind gefährlich… Sie küsst Kay fast tot.
Gerda verkörpert die Gefühlsichere von beiden Kindern (wie auch in den Volksmärchen übernimmt sie diese tradierte Rolle). Sie bleibt auch stärker dem traditionellen Glauben verhaftet bis zum Schluss der Geschichte, gleichzeitig kann sie Kay magisch-märchenhaft, aber auch im christlichen Sinne erlösen, denn Kays Sündenfall ist der Glaube an den Verstand, die reine Intellektualität. Das symbolisiert der “Spiegel”, den die Kobolde zum Himmel hinauftragen.
Dieser Spiegel ist ein Zerrspiegel und steht für Andersens Überzeugung, dass es der Verstand nicht ist, der uns die Wahrheit zeigt. Ohne die Liebe als korrigierende, tranzendentale Macht ist wahre Erkenntnis nicht möglich. Symbol dafür ist das Wort Ewigkeit ( Alpha est et O = Omega… also: “Er ist Anfang und Ende” = Gott), das Kay nicht legen kann. Zweimal wird die Uhr genannt, in der 2. und 7. Geschichte. Die Uhr ist die gequantelte Zeit, sie ist einteilbar und messbar. Wichtig, richtig ist sie für unser Leben, aber nicht letzte Erkenntnis.
Der “Einbruch” der Intellektualität bei Kay ist gleichzeitig die erste Berührung mit der Sexualität. Verständlich, weil das große Thema der Geschichte die “Ablösung” – und zwar für beide Kinder – von der Mutter (der als groß erlebten Mutter… also wörtlich der Groß-mutter) ist. Die Schneekönigin ist die erste “andere” Frau für Kay. Die schwesterliche, also asexuellen Freundin Gerda kann diesen Part noch nicht übernehmen. Die Schneekönigin ist zugleich beschützende, haltende Mutter (Mantel, aber kalter Mantel) und verführerische, bedrohliche Frau “sonst küsse ich dich tot” (also die ödipale Mutter).
Einen Vater, der Kay den Weg weisen kann, gibt es in diesem Märchen nicht. Kay hat keine Identifikationsfigur. Die hat Gerda auch nicht. Die Eltern werden kaum erwähnt. Wichtig wird, was Gerda tut, wie sie auf den Verlust ihres Freundes reagiert, denn Kay macht nach der Begegnung mit der Schneekönigin keine Entwicklung mehr durch.
Das muss er auch nicht, weil die beiden Kinder erzähltechnisch so etwas wie Doppelgänger sind (Das gibt es in Volksmärchen ebenso wie in den Kunstmärchen). Gerda verkörpert Kay als “alter ego”, oder umgekehrt. Sie sind und bleiben aufeinander bezogen, ganz gleich, was geschieht. In die Dinge, die Gerda erlebt, ist Kay immer eingeschlossen, sie bleibt mit ihm verbunden und ihre Entwicklung ist auf ihn übertragbar.
Die einzelnen Stationen in Kürze:
Die 1. Geschichte ist so etwas wie ein Prolog und der Hinweis des Erzählers, dass es etwas zu lernen gibt.
In der 2. und der 7. Geschichte: Hier geht es um die Uhrzeit, die Großmutter, christliche Motive: Geburt des Erlösers, Weihnachten, kalte Jahreszeit und die Rosen als Symbol der Liebe und des Sommers.
Am Ende der 2. Geschichte steht die Entführung von Kay durch die Schneekönigin und die Trennung von Gerda. Sie erlebt diese Trennung als Tod des einen Teils ihrer selbst (Abspaltung). Sie macht jetzt das Erwachsenwerden schrittweise als Suche durch. Am Ende finden sich beide Teile wieder. Interessant ist, dass der Schluss so unerotisch ist, wie nur möglich!!
In der 3. Geschichte verlässt Gerda ihr zu Hause (typisches Märchenmotiv: In die Welt gehen! ). Interessanterweise opfert sie dafür ihre roten Schuhe (!), “die Kay noch nie gesehen hat”. Sie wird von einer Zauberin, einer Frau (nicht etwa von einem Mann) festgehalten, die ihr die Erinnerung nimmt, weil sie das “kleine Mädchen” nicht hergeben will (vgl. Schneekönigin und Kay). Gerda lebt bei ihr in einem wunderschönen Blumengarten. Die Blumen im Garten verkörpern selbstbezogene und versponnene Wesen (narzistisch), die träumen und von echter Lebenserfahrung nichts wissen. Das erkennt Gerda irgendwann auch und sagt es. Sie kann sich durch Trauer (Tränen) befreien und hat jetzt die Sicherheit, dass Kay lebt. Aus der narzistischen Mutterbindung, in der sie als kleines unmündiges Kind gehalten wurde, befreit sie sich, ist jetzt fähig in die Welt zu gehen und Kay zu suchen.
Die 4. Geschichte: Krähen sprechen mit Gerda in der Menschensprache, Gerda – im Unterschied zu vielen Volksmärchen – versteht nicht die Tiersprache, die Fähigkeit der Groß-Mutter, die ja alles kann, hat Gerda nicht. Sie braucht sie hier aber auch offensichtlich nicht. (Ist ja auch ein kindlicher Glaube, dass die große Mutter alles kann!). In dieser Sequenz erlebt sie – zuerst als Erzählung der Krähe, dann als Beobachterin – eine sexuelle Beziehung, sie hat dabei ein schlechtes Gewissen (“als ob sie etwas Böses tun wollte”). Aber sie erlebt sie im Geheimen: das scheinbare Erkennen des Prinzen ist körperbezogen. Paarbindung und Erotik sind in der 4. Geschichte das Thema… auch bei den zwei Krähen, hier ironisch verbrämt.
Gerda träumt von Kay, aber der Erzähler kennzeichnet es als Traum.
In der 5. Geschichte befindet sich Gerda in der Kutsche der Prinzessin. Sie ist reich beschenkt. Und sie macht sich auf den Weg. Nach der Erotik ist die nächste Erfahrung, die Gerda erleben und integrieren muss, die der Gewalt. Auch das Räubermädchen ist ein “alter ego”, also ein gegensätzlicher Teil ihrer selbst. Die Beschreibung und der fehlende individuelle Name legen das nahe. In dieser Sequenz kann Gerda ihre (eigene) Aggressivität wahrnehmen und integrieren.
In der 6. Geschichte sind Fremdartigkeit und Andersartigkeit Thema. Die beiden Frauen “Finnin” und “Lappin” erinnern an die Leitfigur der Großmutter. Auch sie sind Wissende und helfen Gerda weiter. Mittlerweile hat das Mädchen sich aber innerlich von der eigentlichen Großmutter weit entfernt, deshalb die Fremdheit dieser Frauengestalten.
In der 7. Geschichte ist Gerda mit ihrem christlichen Glauben alleine. Sie ist eigenständige Person geworden, muß also die Kälte der Intellektualität körperlich schutzlos selber erfahren und bestehen. Beim Anblick von Kay durchlebt Gerda noch einmal die Trauer um den verlorenen Freund, sie weint und ihre Liebe bringt die kalte gefährliche Intellektualität in Bewegung, zum Tanzen. Aus dem kalten Spiel des Verstandes wird Erkenntnis im Sinne des Bibelwortes (“Er erkannte sie”). Der Sieg über die Kälte der Ratio, aber auch über die abgespaltene Erotik kann sich vollziehen und die Erlösung von Raum und Zeit aufscheinen. Am Ende steht der Kreisschluss und die Rückkehr nach Hause auf höherem Niveau: “Und es war Sommer, warmer, wohltuender Sommer”. Die Schneekönigin und der Winter sind vorbei.
Bleibt die Frage: siegt jetzt doch die Idylle des 19. Jahrhunderts, sind die Wissbegierigen gezähmt, Prometheus an die Kette gelegt? Ich glaube nicht, die Veränderungen sind zu deutlich, Gerda und Kay “sind erwachsen geworden”…und welche Einwände sollte ausgerechnet ich gegen die überschwänglich blühenden Rosen am Ende haben…oder du, als verspäteter Spätromantiker?
Liebe Grüße, Ute
P. S.
Als Sprecherin mahne ich an: Der Originaltext hat 11.180 Wörter, mein jetziger, bearbeiteter Text hat 9.251 Wörter. Die Differenz sind 17 % Lesezeit. Insgesamt sind das immer noch 70 Minuten Sprache… Hab Mitleid und lass mich kürzen!! Ute
english synopsis
The fairy tale «The Snow Queen» by Hans Christian Andersen tells the moving story of Kay and Gerda, whose friendship is almost destroyed by a magic mirror formed by the devil himself. Broken into billions of pieces it is scattered over the world. If a splinter gets into a person’s eye, it turns his heart into a block of ice and makes him see only the bad and the ugly in all around him. One beautiful summer’s day, such a splinter drops into Kay’s eye and his heart becomes frozen and cruel. The following winter he succumbs to the Snow Queen’s charm and follows her into her palace at the North Pole. While Kay is vainly attempting to solve the Snow Queen’s puzzle and thus be able to complete the word «eternity», Gerda sets out on her adventurous journey into the North to seek Kay and perhaps melt his frozen heart with her tears. This fairy tale both fascinates through its cold scenic imagery and its vivid characters.
The performance of the fairy tale «The Snow Queen» by Hans Christian Andersen combines the original epical text with the music of the composer Wolfgang Roese. The human narrative voice thereby remains to be the communication medium. Dramatization is not achieved on the text level but by juxtaposition of narrative text and music.
Quite a venture it might be to contrast a single narrative voice with an ensemble of 200 musicians – choir, symphonic orchestra and soprano. Yet it is on par with the polarity of the text, in which the process of experience is opposed with the overwhelming moment. It is furthermore a special feature and talent of the composer to bring together something ostensibly disparate – a talent he has already given proof of in previous concerts.
Schauspielerin ChrisTine Urspruch steht im Mittelpunkt des Werkes und verleiht den zahlreichen Figuren ihre Stimme.